53. Sächsische Chor- und Instrumentalwoche
Datum: 29. Juli bis 6. August 2023
Ort: Hohenstein-Ernstthal
Leitung: Georg Christoph Sandmann und Katharina Reibiger
Konzerte: Gersdorf und Mylau
huettengrund

 

Die SCIW im Jahr 2023 ist meine insgesamt vierte. Jedes Mal waren es für mich sehr unterschiedliche Umstände, die diese Woche begleitet haben. Gleich die erste Teilnahme, die 50. Jubiläums SCIW 2020 fiel wegen Corona ganz ins Wasser. Bei meiner zweiten Anmeldung kam ich immerhin bis zur Hauptprobe, danach mussten wegen eines Coronafalls im Orchester beide Abschlusskonzerte kurzfristig abgesagt werden. Im dritten Anlauf schließlich konnte ich als Kontrabassist im Orchester erstmalig eine vollständige SCIW mit zwei eindrucksvollen Abschluss-Konzerten erleben. Was würde aus meiner vierten Teilnahme werden? Das fragte ich mich im Frühjahr dieses Jahres, nachdem mich ein Bandscheibenvorfall außer Gefecht gesetzt hatte. Bin ich rechtzeitig wiederhergestellt und wenn ja, kann ich dann überhaupt als Kontrabassist im Orchester mitspielen? Als die SCIW immer näher rückte und die Prognose für meinen Rücken nicht besser wurde, entschloss ich mich kurzer Hand statt mit dem Kontrabass diesmal als Sänger im Chor mitzuwirken, Bässe und Tenöre werden ja schließlich gesucht. Ein Anruf beim SCIW Orga-Team gab dafür grünes Licht.

Schon am Ankunftstag sehe ich viele bekannte Gesichter wieder. Dabei habe ich von einigen Ausfällen erfahren, die erstaunlicherweise meist auf Fahrradunfälle zurückzuführen waren. Mussten wir uns nach Corona erst wieder an das freie und sichere Bewegen gewöhnen? Die offizielle Eröffnung im Seminarraum des Gästehauses und die Proben für den Gottesdienst am Sonntag müssen Christiane und ich auslassen, da wir uns gleich aus dem „Staub“ machen, um der Einladung eines langjährigen Freundes anlässlich seines 70.Geburtstag nach Chemnitz zu folgen. Am Sonntag nach dem Gottesdienst und dem Mittagessen beginnt dann die erste „ordentliche“ Chorprobe für mich erwartungsvoll. Es geht unter Katharinas Leitung auch gleich zur Sache. Die Noten hatte ich mir schon angesehen, so dass größere Überraschungen ausbleiben. Zum Abendessen ist die ganze SCIW-Mannschaft erstmalig vollzählig versammelt. Nur die Podestbauer fehlen noch, die wie jedes Jahr am Sonntagnachmittag das Orchesterpodest für die Woche in der Gersdorfer Kirche aufbauen. Damit sie nicht mit leerem Magen dastehen müssen, wird für sie vom Abendbrot etwas zur Seite gestellt.

Der Montag ist für mich neben der Musik noch mit anderen Dingen angefüllt. Ich hatte mit Schrecken den Verlust meines Handys bemerkt. Eigentlich konnte es nur am Samstagabend auf der Fahrt zurück aus Chemnitz verloren gegangen sein. Nachforschungen, Anrufe, Verlustmeldungen, Fahrt zur Polizei usw. waren die unangenehmen Folgen. Am Nachmittag schließlich die erlösende Information. Das Telefon wurde am Bahnhof gefunden und ich kann es beim ehrlichen Finder in Hohenstein-Ernstthal abholen. Nochmal Glück gehabt! Dann kann es ja nun endlich richtig losgehen mit der Chorarbeit. Bei den Chorproben hat sich schnell eine feste Sitzordnung eingestellt. Ich sitze in der Mitte, gleich links neben mir Martin Böttger, den ich schon von vorherigen SCIWs kenne. Martin ist nicht nur Chorsänger, sondern nimmt trotz seiner 76 Jahre auch Unterricht im Orchester-Dirigieren. Die Ernsthaftigkeit dieser Leidenschaft habe ich bei den vorherigen Malen erlebt, als er im Rahmen des Dirigier-Workshops die Möglichkeit nutzte, unter den Augen seines Mentors Christoph Sandmann (im Übrigen gegenseitig bei einem respektvollen „Sie“ verbleibend) das 
Orchester zu dirigieren.

In den Pausen zwischen den Proben hört man wie immer aus vielen Räumen des Betlehemstifts Musik. Auch sieht man auf den Gängen und Wegen Teilnehmer mit Instrumenten und Notenständern - man ist also auch schon fleißig bei der Kammermusik und bei den Proben für den bunten Abend. Ich mache aus alter Verbundenheit einen Gast-Besuch bei den Celli und Kontrabässen. Auch bei Ihnen liegen bereits Arrangements für den bunten Abend auf den Pulten. Das Wetter ist kalt und regnerisch in diesem Jahr und lässt in der freien Zeit leider kein Baden im nahen Stausee zu. Außerdem ist die Bundesstraße weiterhin gesperrt, was von der Lärmbelästigung her gut, aber trotzdem einigermaßen erstaunlich ist, denn seit dem vorigen Jahr ist man aus meiner Sicht auf der Baustelle nicht wesentlich vorangekommen. Die Versorgung im Betlehem-Stift ist wie immer reichlich und gut. Bei der Frucht-Grütze mit Vanille-Soße muss man sich allerdings rechtzeitig seinen Anteil sichern. Wie in jedem Jahr gibt es die täglichen Morgenandachten nach dem Frühstück und ein Yoga Angebot, das ich aber wegen meiner Rückenbeschwerden nicht nutze.

Das Singen strengt meine Stimme ungewohnt an. Ich habe mich jedoch reichlich mit „Emser Pastillen“ ausgestattet, die dem strapazierten Hals guttun. Der Rheinberger läuft immer besser, aber der Gjeilo ist nicht so einfach. Es sind vor allem die leisen Stellen, die eine besonders große innere Spannung benötigen und deshalb eine Herausforderung darstellen. Das ist nach meiner Erfahrung im Orchesterspiel aber auch nicht anders. Zur Vormittagsprobe am Mittwoch ist mein linker Nachbar nicht da. Wie ich höre, hat sich Martin vom Chor abgemeldet um praktische Anschauung im Dirigieren bei der Orchesterprobe zu bekommen. Er rechnet sich wohl auch die Chance auf ein eigenes Dirigat aus. Leider klappt es damit nicht und als ich ihn später frage, ob sich denn im Laufe der Woche noch einmal eine Gelegenheit zum Dirigieren ergeben könne, antwortet er vielsagend: „Vielleicht“. Da ich etwas verdutzt schaue, fragt er mich augenzwinkernd, was denn der Unterschied zwischen einer Frau und einem Diplomaten sei. Wer den Witz kennt, wird verstehen, dass es sich hier also um ein „diplomatisches“ Vielleicht seines Mentors gehandelt haben muss.

Am Donnerstag nun der von vielen ersehnte besondere Höhepunkt der Woche, der bunte Abend. Doch das Wetter schlägt Kapriolen und es steht die Frage: „Zelt: Ja oder Nein?“ Die Entscheidung lautet, die überdachte Veranda im hinteren Teil des Bethlehem-Stifts als Bühne zu nutzen und das schon in Teilen aufgebaute Zelt wegen des starken Windes wieder abzubauen. Diese Entscheidung erweist sich im Nachgang als sehr sinnvoll und könnte eigentlich auch für die nächsten Jahre Bestand haben. Der Aufwand für den Bühnenaufbau reduziert sich, bei kleinen Wetterstörungen ist wenigstens ein Teil der Bühne überdacht und bei ganz schlechtem Wetter ist ohnehin der Umzug ins Haus erforderlich. 
Das Programm des bunten Abends ist wie immer vielseitig und originell. Adam ist der gewohnt „coole“ Conferencier, Micha meistert die Tücken der Technik. Im ersten Teil wird von den Kindern das musikalische Märchen „Rumpelstilzchen“ aufgeführt, unterstützt von einigen Erwachsenen. Traditionsgemäß wird auch der Dank aller Teilnehmer an das Haus des Bethlehem-Stifts für die Betreuung, an das Orga-Team und die künstlerische Leitung des SCIW ausgesprochen. Als Höhepunkt und Abschluss des Abends formiert sich eine Blaskapelle in großer Besetzung. Es ist erstaunlich, wie sich in jedem Jahr neue Ideen in neuen Konstellationen zur Gestaltung dieses Abends finden.

Am Freitag-Vormittag findet die Hauptprobe für den Chor in der Gersdorfer Kirche statt. Der Chor teilt sich zu Fahrgemeinschaften auf und pünktlich um 10 Uhr geht es los. Das erste Mal mit Orgel werden vor allem die Übergänge zwischen den Teilen und auch der Aufgang des Chores auf die Orgelempore für den Rheinberger geprobt. Am Abend folgt dann die Hauptprobe des Orchesters, der Chor hat in der Zeit frei. Ich ahne, dass Martin sich die Gelegenheit zum Zuhören nicht entgehen lassen würde und da mich der Dvorak auch interessiert, werden wir schnell einig, gemeinsam zur Probe zu fahren. Als wir uns zur Abfahrt am Auto treffen, bedankt sich Martin bei mir für die Fahrdienste und schenkt mir eine Broschüre mit dem Titel „Schule der Opposition“. In der Kirche hat er auch noch eine Partitur der 8.Sinfonie im Taschenbuchformat für mich parat. Er selbst ist mit einer mit Eintragungen gespickten eigenen, großformatigen Partitur ausgestattet. Noch am gleichen Abend lese ich Martins politische Autobiographie, so der Untertitel der kleinen Broschüre. Ich wusste von seiner Rolle in der Friedensbewegung und als Bürgerrechtler in der DDR und in der Wendezeit. Mich hat die Lektüre gefesselt, denn sie hat mir sehr eindrücklich Einzelheiten seines freigeistigen, unbeirrten und mutigen Eintretens für die Rechte der Bürger in der Zeit der DDR und danach vermittelt. Ich würde diese kleine Broschüre zur Pflichtlektüre im Geschichtsunterricht der Schulen machen. Dann müsste man vielleicht nicht, wie kürzlich im Radio geschehen, die ziemliche Ahnungslosigkeit der heutigen Jugend in Bezug auf die DDR-Geschichte beklagen.

Am Sonnabend-Vormittag ist die Generalprobe in der Gersdorfer Kirche angesetzt. Gleich im Anschluss daran gibt es die Aufstellung zum Abschlussfoto aller Teilnehmer auf den Stufen vor der Kirche. Nach einem späten Mittagessen beginnt unter freiem Himmel das traditionelle Hofkonzert. Es stand wegen des regnerischen Wetters auf der Kippe, aber der Himmel meint es gut. Etwa 30 Heimbewohner verfolgen auf Bänken und in Rollstühlen vor dem Eingang des Pflegeheims sitzend oder aus den Fenstern ihrer Zimmer schauend das etwa halbstündige Programm. Am frühen Abend schließlich der Höhepunkt, auf den die ganze Woche hingearbeitet wurde: das Abschlusskonzert in Gersdorf. Die Kirche ist gut besucht. Es gibt sehr freundlichen Applaus (auch zwischen den Sätzen). Am Ende des Konzerts bedankt sich der junge Pfarrer der Gemeinde in Anspielung auf die Einführung von Christoph Sandmann zur 8.Sinfonie von Dvorak ebenfalls „viersätzig“ bei allen Teilnehmern der SCIW für das schöne Konzert. Beim gemeinsamen Zusammensein auf den Bänken vor dem Bethlehem-Stift findet der Tag abends nach dem Konzert seinen Ausklang.

Nach dem Frühstück am Sonntag startet die letzte Etappe. Die Zimmer im Bethlehem-Stift werden geräumt und in die Schlüssel abgegeben. Die Podestbauer sind schon wieder in Aktion, um das Orchester-Podest in Gersdorf ab- und in Mylau wieder aufzubauen. Nach einem späten Mittagessen geht es in Fahrgemeinschaften nach Mylau. Wir nehmen in unserem Auto die junge Aushilfe (Posaune) aus Japan mit. Wir machen dabei einen Abstecher zur Göltzschtal-Brücke, um ihr neben der Musik auch einen Eindruck von Sachsens Industrie- und Baugeschichte zu vermitteln. Die Orgel in Mylau ist leider einen halben Ton zu tief (oder zu hoch?). Katharinas Bruder, der die Orgel spielt, muss jedenfalls transponieren, was ihm aber keine Probleme bereitet. Die Kirche ist nahezu vollbesetzt und es läuft sogar besser als in Gersdorf. Das ist zumindest mein Eindruck, möglicherweise hat die nicht so trockene Akustik der Kirche dazu beigetragen. Nach dem Konzert muss das Podest abgebaut und wieder zurücktransportiert werden. Hochachtung und großen Dank an die Podestbauer für ihren aufopferungsvollen Einsatz während der ganzen Woche. Wegen des einsetzenden Regens und eines bedrohlich aufziehenden Gewitters fallen die üblichen Verabschiedungsrunden diesmal kürzer aus. Leider sehe ich auch Martin Böttger nicht noch mal, um mich von ihm persönlich zu verabschieden. Vielleicht gibt es ja im nächsten Jahr ein Wiedersehen.

Mein Fazit der Woche: Auch als Chorsänger ist die SCIW eine wunderbare Erfahrung. Man lernt viele interessante Menschen kennen, die die gemeinsame Liebe zur Musik verbindet.

Dezember 2023
Ulrich Dreßler

Sächsische Chor- und Instrumentalwoche (c) 2024